Der Mann ist verunsichert

Tierschutz liegt im Trend. Der Reichsnährstand in Form Tausender Bauern und Bio-Wutbürger demonstriert vom Trecker herab gegen die »industrielle Landwirtschaft«, steht in bester antimoderner Tradition »für Bauernhöfe statt Agrarfabriken« ein. Schuld am Dioxinei sei die Industrialisierung der Landwirtschaft an sich, nicht der dahinterstehende ökonomische Zwang, der notwendig die Springquellen des Reichtums untergräbt. Zweifellos ist unter diesen Bedingungen die Alternative zur kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft keine Befreiung: Der »Ausbau global integrierter Produktionsketten« heißt nicht, dass jede Produktion dazu beiträgt, jedem Menschen an jeden Punkt der Erde die notwendige Nahrung zu liefern. Es bedeutet vielmehr die wortwörtliche Einebnung des Landes für das Kapital. So zerstörerisch die Industrialisierung ist, so produziert sie Nahrung im Überfluss, sodass 7 Milliarden Menschen alleine durch Getreide täglich 2.700 Kalorien zur Verfügung stünden.

Im öffentlichen Moraldiskurs ist man sich derweil einig: Gegen »Massentierhaltung« zu sein, gehört zum bundesdeutschen Konsens. Dies ist eine kollektive Verdrängungsleistung einer Realität, in der Tiere so rationalisiert vernutzt werden wie nie zuvor. Jenseits der »Massentierhaltung« gibt es nichts und kann es unter diesen Bedingungen nichts geben. Der Begriff ist reine Ideologie. Alle hängen einer romantischen Vorstellung der Tiernutzung an, anstatt den jetzigen Zustand aufheben zu wollen.

Gott bewahre, dass das Idealbild, das der »Massentierhaltung« entgegengesetzt wird, Wirklichkeit wird. In dem anthroposophischen Bio-Magazin »Demeter Journal« (Nr. 8, S. 12) wird über eine »wesensgemäße« Tierhaltung berichtet. Demnach wird das Tier eigenhändig auf der Weide in einem esoterischen Ritual getötet. Mit »Liebe« und Sorgfalt. Zur »würdige[n] Tötungszeremonie« gehöre dazu, »per Kugelschuss das Töten auf der Weide [zu] praktizieren«. Das ist metaphysisch in Einklang mit Wesen, Geist, Seele, Kosmos, Telos, Pipapo. Das Fleisch schmeckt auch besser, wenn »der Tod Sinn macht«. »Bewusste Genießer« wollen schließlich das individuelle Leben schmecken; das »Fleisch erzählt [ihnen] … die Geschichte seines Lebens.« An anderer Stelle heißt es: »Lebensprozesse sind Aroma-Abdrücke«. Hier wird nicht einfach ein totes Tier gegessen, sondern die Essenz eines Lebens einverleibt.

Doch so abgehoben esoterisch muss es gar nicht zugehen. Teenies fordern auf der besagten Demonstration im Namen der Kälber: »Wenn ich schon sterben muss, dann will ich wenigstens ein schönes Leben gehabt haben.« Dies ist eine bestechende Logik. Was sein muss, muss sein. Wenn schon, denn schon. Wer kann dagegen etwas einwenden?

Was so harmlos klingt, ist eine ekelerregende Äußerung, die Bände spricht über die totale Verschleierung des Bewusstseins, über die herrschende instrumentelle Vernunft: Da machen sich Menschen mit dem Tier gemein, geben ihm eine Stimme. Was sie ihm in den Mund legen, ist jedoch die »vernünftige« Einsicht in die Zwecke, zu denen es der Mensch geschaffen hat. – Könnten die Warenbesitzer selbst unbelebte Gegenstände zum Sprechen bringen, so würden diese sich wünschen, gegen Äquivalente getauscht zu werden. Das Tier würde sich, da sind sich die Menschen sicher, wünschen gegessen zu werden und es würde für eine »Nutzung« plädieren, die das Gewissen der Warenhüter rein sein lässt.

Die Kulturindustrie, die den Verunsicherten Rechtfertigungen, Ratschläge und »Auswege« verkauft, läuft auf Hochtouren. Journalisten und Schriftsteller schreiben Bestseller wie »Tiere essen« oder gar »Anständig essen« und bedienen damit ein kollektives Bedürfnis. Vegetarier und Veganer treten in Fernsehshows auf, bringen Zuschauer in schwere Gewissensnot, sodass diese sich gar vornehmen, im neuen Jahr »weniger Fleisch zu essen«. Oder zumindest solches aus »anständiger«, »artgerechter« Haltung (s.o.). Jeder könne bei sich anfangen, mit kleinen Schritten ein »besserer Mensch« werden, so heißt es. Ganz Deutschland besteht nunmehr aus »Teilzeitveganern«, ohne dass sich etwas geändert hätte. Die Deutschen sind schwer darum bemüht, wieder Ordnung in ihr Psychochaos zu bringen. Immer dieser Ärger mit dem Vieh – kann es nicht mal gut sein?

Man kann nur hoffen, dass sie ihren Frieden nicht finden werden. Von dem moralistischen Diskurs ist nämlich nichts zu erwarten als die letztliche Affirmation der herrschenden Vernunft. Dennoch ist nicht alles falsch an ihm. In seinen nicht begriffenen Momenten steckt etwas von der spontanen Fähigkeit zur Mimesis, die es zu erhalten und zu kultivieren gälte.

Die Jungle World druckt einen Auszug aus einem dieser Bestseller ab. Selbstverständlich nicht, weil sich darin ein Beitrag zur kritischen Theorie des Mensch-Tier-Verhältnisses findet, sondern weil sich darin über esoterische Frutarier lustig gemacht wird, die im selben Atemzug von »Pflanzenrechten« sowie Tier- und Menschenrechten sprechen. Dass passt wunderbar in die Blattlinie, die diesbezüglich auch nur das durchschnittsdeutsche Bauchgefühl mit exlinken Einsprengseln widerspiegelt (konventionelle Landwirtschaft ist in Ordnung, Kapitalismus an sich schlecht, weniger Fleisch essen hilft). Duves Humor trifft auf das Distinktionsbedürfnis eines Jungle-World-Lesers. Der dämliche Plauderton, der es nicht schafft, eine Position zu artikulieren, sondern alles gleich »ironisch« sieht, tut sein übriges. Autoren des Genres »Erlebnisberichte« gehen auf Pilgerreise, gehen »offline« oder wollen keine Lebewesen mehr erniedrigen und ausbeuten – die Kulturindustrie schafft es, das alles auf gleiche Weise unverbindlich abzuhandeln.

Doch glücklicherweise geht das nicht auf. Was sich Karen Duve in ihrem absurden Anliegen, das Ich und die böse Welt durch »anständiges« Essen wieder in Einklang zu bringen, erhalten hat, ist die Wahrnehmung der Historizität des gesellschaftlichen Naturverhältnisses. Sie braucht nur das Fernsehen anzuschalten und sieht, wie es sich ständig erneut bestätigen und festigen muss. Die Gewalt schlägt ihr entgegen:
»Natürlich Steffens!«. … [die hessische Ex-Milchkönigin] hat ein Kalb mitgebracht, das die ganze Zeit an ihrer Hand saugt und sabbert. Dass Kälber auf diese Weise ihre Verlassenheitsgefühle ausagieren, ist in der Milchwirtschaft normalerweise nicht erwünscht. Im Agrarkatalog (…) kann man stachelbewehrte »Viehsaugentwöhner« kaufen …. Jedes Mal, wenn ein Kalb mit so einem Ring in der Nase an einem anderen Kalb saugen will, drückt es ihm die Stacheln des Saugentwöhners ins Fleisch, und das andere Kalb nimmt Reißaus. … Die Zuschauer im Studio sehen das herzig schmatzende Kälbchen auf der Bühne und applaudieren gleichzeitig der Meinung, dass es gut und richtig ist, dieses Kälbchen umzubringen, um sich sein Fleisch in den Mund zu stecken.
Was sie hier treffend kontrastiert ist das in Bahnen gelenkte, verstümmelte Mitgefühl, die »Tierliebe« einerseits und die sachliche Herrschaft andererseits, die den Bedürfnissen des Tieres wie dem nach Zuneigung und Gemeinschaft rein technisch und instrumentell, d.h. unterdrückerisch begegnet. Dies geht beides widerspruchslos zusammen.

Ein weiteres Beispiel:
»Deutschlands Meisterkoch«. … Die Kandidaten sollen einen lebenden Hummer zubereiten. Es wird ihnen erklärt, wie man ihn tötet – mit dem Kopf voran in sprudelnd kochendes Wasser stecken, Deckel drauf, und nach 20 Sekunden ist er tot. … Eine Frau weint beinahe. Ein bärtiger Mann erzählt später in die Kamera, dass ihm ganz schön mulmig zumute war, als er dem Hummer ins Gesicht sah. »Dann aber sagte ich mir: Ich kann das.« In der bunten Welt der Männlichkeit gilt es immer noch als Leistung, in Situationen, die nach Mitleid geradezu schreien, dieses Mitleid in sich zu unterdrücken. … In der Kochshow stecken übrigens alle acht Kandidaten und Kandidatinnen ihren Hummer in das kochende Wasser. Keiner weigert sich. Nicht einmal die Frau, die beinahe geweint hätte. Als sie das große Schalentier ins Wasser gleiten lässt, krallt sich der Hummer mit dem Schwanz am Topfrand fest. Vielleicht ist er auch einfach nur zu groß, jedenfalls bekommt sie den Deckel nicht zu und muss noch einmal nachstopfen. Dann rennt sie mit erhobenen Händen vom Herd weg. Ich glaube, diesmal weint sie richtig. Es geht um 100 000 Euro.
Duve leistet es offenbar nicht, diese Situationen weiter zu deuten und theoretisch anzugehen, sie weiß jedoch diese Inszenierungen zur Überwindung des Mitgefühls, zur Absicherung der Herrschaft literarisch vorzuführen. Sie deutet eine Kritik des Mensch-Natur-Dualismus anhand des Geschlechterverhältnisses an, wie sie Adorno und Horkheimer in Mensch und Tier entfalten: Die Zivilisation fußt auf dem selbstidentischen Mann als stolzen Naturüberwinder. Dieser ringt die »Natur«, also das »Weibliche«, also das »Tier« in sich und damit die mimetischen, empathischen Fähigkeiten nieder, indem er das Tier tötet. Die Menschwerdung, d.h. Mannwerdung in Abgrenzung zum Tier wird hier als Ritual kollektiv zelebriert.

08.02.2011