Kein Vergessen
Unter einer Brücke, unter der ich täglich durchlaufe, finden sich Graffiti aus längst vergessener Zeit: »Tag X – 26.5. – Bundestagsblockade« steht dort, und »die BRanDstifter sitzen in Bonn«. Nach und nach verblasst es und wird überschrieben. Wer weiß schon, was es bedeutet und was es mit der Gegenwart zu tun hat?
Ich habe es lange für Folklore, für linke Nabelschau gehalten, sich mit vergangenen Kämpfen zu beschäftigen, die gar vor mehreren Generationen unter (vermeintlich) anderen politischen Verhältnissen stattfanden. Oft sind es verlorene Kämpfe. Einschneidende Erlebnisse für die Aktiven von damals. Krisen, in die Linke intervenieren wollten.
Mittlerweile habe ich verstanden, dass die Wissenschaft der Geschichte die erste Wissenschaft ist. Was ist unsere Rolle im Strom der Zeit, der ein bisschen Emanzipation und viele Rückschläge mit sich führt? In der sich die Herrschaft stetig wandelt und neue, totalere Formen annimmt, aber nicht verschwindet. Ich klammere mich an zwei Ideen.
Erstens die Idee, so viel wie möglich aufzunehmen. Ereignisse zu verstehen. Sich bewusst zu werden. Diskutieren. Kritik äußern. Intervenieren. Erniedrigungen und Leid anerkennen und benennen. Stimmen verstärken.
Zweitens die Idee der Überlieferung. Eine Chronik zu schreiben. Wie die Graffiti, die nach 23 Jahren an einen Kampf gegen den deutschen Rassismus erinnern. Und an eine Niederlage, eine Zäsur, einen Tiefpunkt.
Warum das Ganze? Die Beschäftigung mit der Geschichte zeigt die Kontingenz der Welt auf, das ist die »Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit«. Dass »eine andere Welt möglich« ist, ist kein Blick in die Zukunft, sondern ein Erfahrungsurteil. Es ist ein Blick zurück auf alle Möglichkeiten, die unmöglich gemacht wurden. Was wir vorfinden, ist menschengemacht. Es waren menschliche Entscheidungen, die uns hier hin gebracht haben. Es hätte anders kommen können. Jeder Moment besteht aus Möglichkeiten und Abzweigungen.
Das Asylrecht hätte 1993 nicht faktisch abgeschafft werden müssen, das Asylrecht hätte 2015 und 2016 nicht verschärft werden müssen, und so weiter. An jeder Abzweigung können wir den Weg weisen. Das bedeutet nicht, sich selbst und die eigene Macht zu überschätzen. Wege sind verstellt, Krafteverhältnisse unumkippbar, Ideologien zu wirkmächtig, soziale Bewegungen zerstritten und selbst verstrickt. Kurz: Es ist kompliziert. Es bleibt zu analysieren, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist.
»Tradition« bedeutet Überlieferung. Wörtlich: Hinübertragen, um es vor dem Vergessen zu bewahren. Ich habe erkannt, dass emanzipatorische Politik zu einem großen Teil aus aus Erinnern, Trauern und auch Nachtrauern besteht. Das, was eigentlich verschrien ist. Das Erinnern ist linken Gruppen vorbehalten, die, nun ja, als »traditionell« bezeichnet werden und von denen sich junge Politisierte hauptsächlich abgrenzen, anstatt sich an ihren Überlieferungen abzuarbeiten.
Heute ist nicht damals, für wen also Aufschreiben, Sammeln, Erinnern? Wenn Theodor W. Adorno mit seinem Wirken eine Flaschenpost senden will, dann an jemanden, der nicht existiert, aber einmal existieren kann. Wenn die Vorgeschichte des Menschen endet und die Geschichte anfängt.
Ich habe es lange für Folklore, für linke Nabelschau gehalten, sich mit vergangenen Kämpfen zu beschäftigen, die gar vor mehreren Generationen unter (vermeintlich) anderen politischen Verhältnissen stattfanden. Oft sind es verlorene Kämpfe. Einschneidende Erlebnisse für die Aktiven von damals. Krisen, in die Linke intervenieren wollten.
Mittlerweile habe ich verstanden, dass die Wissenschaft der Geschichte die erste Wissenschaft ist. Was ist unsere Rolle im Strom der Zeit, der ein bisschen Emanzipation und viele Rückschläge mit sich führt? In der sich die Herrschaft stetig wandelt und neue, totalere Formen annimmt, aber nicht verschwindet. Ich klammere mich an zwei Ideen.
Erstens die Idee, so viel wie möglich aufzunehmen. Ereignisse zu verstehen. Sich bewusst zu werden. Diskutieren. Kritik äußern. Intervenieren. Erniedrigungen und Leid anerkennen und benennen. Stimmen verstärken.
Zweitens die Idee der Überlieferung. Eine Chronik zu schreiben. Wie die Graffiti, die nach 23 Jahren an einen Kampf gegen den deutschen Rassismus erinnern. Und an eine Niederlage, eine Zäsur, einen Tiefpunkt.
Warum das Ganze? Die Beschäftigung mit der Geschichte zeigt die Kontingenz der Welt auf, das ist die »Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit«. Dass »eine andere Welt möglich« ist, ist kein Blick in die Zukunft, sondern ein Erfahrungsurteil. Es ist ein Blick zurück auf alle Möglichkeiten, die unmöglich gemacht wurden. Was wir vorfinden, ist menschengemacht. Es waren menschliche Entscheidungen, die uns hier hin gebracht haben. Es hätte anders kommen können. Jeder Moment besteht aus Möglichkeiten und Abzweigungen.
Das Asylrecht hätte 1993 nicht faktisch abgeschafft werden müssen, das Asylrecht hätte 2015 und 2016 nicht verschärft werden müssen, und so weiter. An jeder Abzweigung können wir den Weg weisen. Das bedeutet nicht, sich selbst und die eigene Macht zu überschätzen. Wege sind verstellt, Krafteverhältnisse unumkippbar, Ideologien zu wirkmächtig, soziale Bewegungen zerstritten und selbst verstrickt. Kurz: Es ist kompliziert. Es bleibt zu analysieren, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist.
»Tradition« bedeutet Überlieferung. Wörtlich: Hinübertragen, um es vor dem Vergessen zu bewahren. Ich habe erkannt, dass emanzipatorische Politik zu einem großen Teil aus aus Erinnern, Trauern und auch Nachtrauern besteht. Das, was eigentlich verschrien ist. Das Erinnern ist linken Gruppen vorbehalten, die, nun ja, als »traditionell« bezeichnet werden und von denen sich junge Politisierte hauptsächlich abgrenzen, anstatt sich an ihren Überlieferungen abzuarbeiten.
Heute ist nicht damals, für wen also Aufschreiben, Sammeln, Erinnern? Wenn Theodor W. Adorno mit seinem Wirken eine Flaschenpost senden will, dann an jemanden, der nicht existiert, aber einmal existieren kann. Wenn die Vorgeschichte des Menschen endet und die Geschichte anfängt.
14.12.2016