Die Abbildung des Tieres

Nachdem sich frühere Menschenarten schon vor über einer Millionen Jahre über die Kontinente ausbreiteten, bevölkerte schließlich Homo sapiens den gesamten Planeten und verdrängte langsam die anderen Homo-Arten. Erst in den letzten paar zehntausend Jahren ereignete sich eine entscheidende Wende im Naturverhältnis, die sogenannte neolithische Revolution. Während Menschen vorher nomadisch lebten und durch Jagd und Sammeln überlebten, so begonnen sie, sich niederzulassen, Tiere zu domestizieren und Ackerbau zu betreiben.

Diese Naturbeherrschung verschaffte dem Menschen die Möglichkeit, sich die Erde schließlich Untertan zu machen. Das Unterjochen der Tiere, das Kontrollieren der Pflanzen, der Eingriff in die Stoffkreisläufe und letztlich die Entschlüsselung und Manipulation des Lebens hat dazu geführt, dass das heutige Ökosystem im Weltmaßstab ein vom Menschen gemachtes ist. Natur entfaltet sich zum Zwecke des Menschen, das vereint Naturschutz, Artenschutz und das Errichten von »Nationalparks« and anderen Refugien mit seinem vermeintlichen Gegenteil.

Der Mensch hat wenig körperliche Fähigkeiten, um unter wechselnden Umweltbedingungen zu überleben und als Population zu florieren. Der Körper ist nicht für die Jagd auf andere Tiere geeignet, von Thesen wie der Ausdauerjagd abgesehen. Die Fähigkeiten reichen vor allem für das Sammeln von Pflanzen und kleinen Tieren. Das Jagen ist nur durch Intelligenz, durch Naturbeherrschung möglich.

Erst durch Werkzeuge konnte der Mensch seine Existenz sichern und signifikanten Einfluss auf die Natur ausüben. Vorher war er eine Randfigur im Ökosystem, anstatt der bestimmte Faktor auf dem Planeten. Es ist umstritten, inwiefern bereits der Einfluss des jungpaläolithischen Menschen natürliche Ressourcen dauerhaft zum Erschöpfen brachte und zum Aussterben ganzer Tierarten beitrug. Für den modernen Menschen bestehen keine Zweifel mehr.

Als Jägerin und Sammlerin war der Mensch von den Tieren abhängig, die gesamte »Wirtschaft« beruhte auf ihnen. Zweifellos drehte sich das Leben der Menschen um das Tier. Die Menschen hatten die Tiere nicht unter Kontrolle, zogen ihnen hinterher. Das Töten der Tiere war schwierig und gefährlich, denn sie waren zahlenmäßig überlegen, waren größer und stärker, viel größer und gefährlicher als die heutigen gezüchteten »Nutztiere«. Menschen mussten ihr Leben aufs Spiel setzen, gleichzeitig hing ihr Überleben von der Jagd ab. Die Werkzeuge, die Techniken, waren zwar im Laufe von Millionen Jahren verbessert worden, aber letztlich waren sie primitiv: Bearbeitete Steine, Holz, Fasern. Materialien des Tierkörpers: Knochen, Geweih, Elfenbein, Fell.

Diese materiellen Verhältnisse lassen sich archäologisch rekonstruieren. Über die ideelle Beziehung zur Natur und ihren Tieren lässt sich nur spekulieren. Einiges weist darauf hin, dass Tiere spirituell verehrt wurden, als göttliche Wesen angesehen wurden, ein Tierkult praktiziert wurde. Bisher gefundene Artefakte, darunter Höhlenmalereien, Felsbilder und Figuren, weisen auf die zentrale Stellung der Tiere hin.

Wenn Menschen die Natur abbildeten, so wurden größtenteils Tiere abgebildet – zumindest ist uns eine Vielzahl dieser Darstellungen erhalten. Die Menschen waren den Tieren nahe und unzweifelhaft fasziniert von ihnen, nicht nur materiell verbunden, sondern auch geistig. Sie kannten ihre Vielfalt, ihre mannigfachen Lebensäußerungen, und bildeten sie naturalistisch ab oder schufen sogar anthropmorphe Mischwesen. Dieser Blick auf die Tiere ist ein ästhetischer, ehrfürchtiger Blick.

Aus Mitteleuropa sind zahlreiche beeindruckende Tierdarstellungen aus dem Aurignacien (vor 45.000 bis 35.000 Jahren), dem Gravettien (vor 28.000 bis 23.000 Jahren) und dem jüngeren Magdalénien (vor 17.000 bis 11.000 Jahren) erhalten und zählen damit zu den ältesten bekannten Kunstwerken der Menschheitsgeschichte.

Viele der Skulpturen sind keine reinen Kunstobjekte, sondern z.B. Schnitzereien in Speerschleudern. Also Werkzeuge, mit denen Tiere verletzt und getötet wurden. Die Speerschleudern wiederum sind aus den Knochen oder dem Geweih von Tieren gemacht, die der Mensch zuvor getötet hat oder die eines natürlichen Todes starben. Eine merkwürdige Verstrickung von Mensch und Tier, von Leben und Tod. Der Mensch war schicksalhaft an das Tier gebunden. Selbst in der Jagd mit Werkzeugen, die aus gejagten Tieren bestehen, scheint er dem Tier zu huldigen.

Steppenwisent, das seinen Rücken leckt. Aus Mammut-Elfenbein geschnitzt, Teil einer Speerschleuder. Fundort: Halbhöhle La Madeleine, Frankreich. (20.000 bis 12.000 v.u.Z.) – Jochen Jahnke, Creative Commons Attribution-Share Alike
Ganz im Marxschen Sinne sind die Vorstellungen und Bilder, die sich die Menschen von den Tieren machen, Ausdruck der materiellen Verhältnisse. Mit der Domestizierung, der Züchtung und letztlich der industriellen Tierproduktion wurde die Abhängigkeit schrittweise umgedreht. Das Tier verlor seine zentrale materielle Rolle sowie seine spirituelle Bedeutung. Es wurde vom überlegenen Mitbewohner der Erde, an den sich der Mensch anpassen musste, zum bedeutungslosen Gegenstand, über den beliebig verfügt wird. Der Mensch definierte sich als selbstbewusstes Subjekt in Abgrenzung vom Tier, als Naturbeherrscher. Sofern dem Tier Rechte zugesprochen werden, so sorgen sie für eine geordnete, technisch korrekte Ausbeutung: Wenn der Tierschutz einmal gewonnen hat, so arbeitet die Tierproduktion emotionslos, schmerzfrei, reibungslos und »artgerecht«.

Infolge von Siedlungen, Äckern, Weiden, Wegen, Forstwirtschaft, Wasserwirtschaft, Bergbau usw. verschwand der ursprüngliche Lebensraum ohnehin. Arten starben aus oder nur Zuchtformen überlebten. Die meisten Tiere, mit denen die Menschen zu tun haben, sind in die Warenform gepresst. Sie stillen als Haustiere unsere Bedürfnisse. Oder existieren in Nischen inmitten menschlicher Zivilisation und Kulturlandschaften. Erst als exotische »Wildtiere« in vermeintlich unberührten Biotopen erscheinen sie wieder als Objekte menschlicher Faszination, erwärmen in Disney-Produktionen die Herzen. Die Serengeti darf nicht sterben, die Wale müssen gerettet werden und gegen den anthropogenen Klimawandel ist freilich jedeR. Davon abgesehen ist es keiner Rede wert, dass der Mensch allerorten belebte wie unbelebte Materie beherrscht, sich und andere Lebewesen zurichtet.

Der ursprüngliche Akt, das Tier anzubinden oder einzupferchen und das Feld zu bereiten, verhieß noch Befreiung von den Zwängen der »ersten Natur«. Von dort an drehte sich die Spirale der Naturbeherrschung unaufhöhrlich und immer schneller. Es gibt kein Außen und kein Zurück mehr. Es wäre längst möglich, zur Ruhe zu kommen und den Blick zu wenden auf die »verwilderte Selbsterhaltung«. Es gibt keine existenzielle natürliche Bedrohung mehr. Jeder Mensch könnte ohne Angst in Versöhnung mit der Natur leben. Die Behauptung, der Mensch sei seiner selbst bewusst und könne seine eigene Geschichte machen, gilt es noch durch die Tat zu beweisen.

12.06.2013