Die Geschichte mit dem Mann
(Enthält Beschreibungen von körperlichen Verletzungen durch einen Unfall)
Vor einigen Jahren arbeitete ich in Kreuzberg, dazu musste ich den Kurfürstendamm entlangfahren und in die U-Bahn umsteigen. Auf dem Heimweg an einem Sommerabend stieg ich in den Bus, der mit etwas Abstand zum Bordstein hielt. Auf dem verkehrsreichen und zugeparkten Kudamm nichts besonders, üblicherweise durch »Vorsicht beim Aussteigen!« angekündigt.
Kaum hatte ich mein Ticket gezeigt und ging im Bus nach hinten durch, sah ich einen Mann beim Aussteigen hinfallen. Er versuchte wohl mit einem Schritt den Bordstein zu erreichen. Er fiel dabei flach mit dem Kopf auf das Pflaster. Mit Händen und Knien konnte er sich nur wenig abstützen. Sofort stieg ich aus, beugte mich herunter und sprach ihn an. Der Mann wusste nicht, was ihm geschah. Er schaute mich erstaunt an, mit aufgeschürften Händen und einer Platzwunde auf der Stirn. Man sah ihm die Schmerzen, die er an gehabt haben muss, nicht an. Ich war heilfroh, dass er nicht bewusstlos war. Trotzdem schien die Verletzung schwerwiegend zu sein, ich war entsetzt über das Blut, dass ihm sofort über das Gesicht lief.
Ich half ihm auf und setzte ihn ein paar Meter weiter auf die Sitze der Bushaltestelle. So saßen wir dort einige Zeit, die ich Taschentücher auf seine Platzwunde presste. Ich schalte im Allgemeinen nicht schnell und schaltete auch in dieser Situation nicht schnell. Ich reagierte mehr, anstatt zu agieren. Ich war geschockter als der Mann. Der Busfahrer stieg aus, als er das Geschehnis mitbekam, und funkte schließlich die Zentrale an. Ich rechnete damit, dass er Hilfe rufe. Denn er wartete und schien immer wieder zu funken. Er durfte wohl nach Vorschrift den Ort nicht verlassen. Worauf er wartete, blieb mir unklar. Ihm vermutlich ebenso, denn es tat sich nichts und er konnte auch keine rechte Auskunft geben.
Passanten schauen uns an. Menschen stiegen in den Bus und wieder aus, angesichts dessen, dass er bloß stand und nicht wegfuhr. Ein Kellner eines nahegelegenen Restaurants brachte uns ein Glas Wasser und Servietten. Schließlich ergriff ein älterer Mann in einem billigen Anzug die Initiative. Wie viele fragte er den Busfahrer, warum der Bus nicht fahre, erkundigte sich anschließend bei mir. Offenbar wollte er die Situation auflösen, in erster Linie um die Weiterfahrt des Busses nicht länger zu verzögern. Andererseits trieb ihn wohl eine Art Pflichtgefühl, Hilfe zu holen. Er fragte, ob er einen Krankenwagen holen solle, ich bejahte dies. Wenn ich mich recht entsinne, benutzte er dazu mein Handy und gab durch, der Mann sei alkoholisiert. Ich empfand diese Umstände und seine Art widerlich, herablassend und wichtigtuerisch, noch in diesem Moment, aber er war der Einzige, der reagierte.
Nach dem Anruf und nach einigem Hin und Her, ob der Bus auf den Krankenwagen warten solle, fuhr der Bus vorzeitig los. Während wir da saßen, eine gefühlte Ewigkeit, und ich das Taschentuch auf seine Stirn presste, sagte der Mann nichts. Und ich war zu perplex um zu reden. Ich fragte weder nach seinem Namen noch stellte ich mich vor. Er schaute die ganze Zeit gleich traurig und nahm alles hin. Die Kommunikation war nonverbal. Drehte ich mich zu ihm, schaute mich treu an und lächelte gequält. Als wüsste er es zu schätzen, dass ich dort sitze. Ich fragte ab und zu nach seinem Befinden. Er fasste es allgemeiner auf, als es gemeint war. Er verzog sein Gesicht ein wenig und zog die Schultern hoch. Ich deutete dies so, dass es schlecht wie immer sei, er aber längst abgestumpft sei. Es war auch ein Abwiegeln, als wäre er so etwas gewohnt, als kenne er Schlimmeres. Ich konnte nicht angemessen reagieren, ich spürte nur, es ist nicht schlecht, bei ihm zu sein. Ich nahm nicht wahr, was um uns herum passierte.
Die Sanitäter trafen kurze Zeit später ein. Vom Unfall bis zum Anruf muss ein vielfaches dieser Zeit vergangen sein. Die Sachlichkeit und Härte, mit der die Helfer ihrer Tätigkeit nachgingen, verwunderte mich einmal wieder. Sie machten irgendwelche Witze, nahmen den Mann nicht für voll. Sie durchsuchten seine Taschen nach einem Portemonnaie, fanden einen Ausweis und sprachen ihn namentlich an. Er wurde auf eine Trage gelegt. Er wollte offenbar nicht ins Krankenhaus gebracht werden. Er schien ängstlich und schien es nicht für nötig zu halten. Ich versuchte ihm Mut zuzusprechen, sagte, dass es in Ordnung sei. Er beruhigte und fügte sich. Er deutete mir an, dass er mir danke, lächelte, verabschiedete sich damit. Ohne Worte, soweit ich mich erinnere.
Ich nehme an, er war der deutschen Sprache mächtig, aber er sprach wenig, wenn, dann leise, murmelnd und kurz. Offenbar hatte ihm das Leben übel mitgespielt. Dennoch war er nicht so verwahrlost wie manche der Armen und Obdachlosen, denen man in Berlin begegnet. Ich war von seiner Erscheinung, diesen paar Momenten, diesen Blicken überwältigt. Anstatt den Bus zu nehmen, lief ich mit großen Schritten nach Hause. Dort wusch ich mir das Blut von den Armen und wechselte die befleckte Kleidung.
08.11.2012