Materialistische Wendung – Stadt (1)

Im Berliner Kiez kommen nachlässige Urbanität und autochthoner Stumpfsinn wie nirgends sonst auf der Welt zueinander. Kreuzberger oder Neuköllner verlassen eher den Kontinent als den eigenen Bezirk. Hier haben sie ihre Szene, hier haben sie ihre Freunde, und hier schlägt ihr Herz, das sie anders als ihren Verstand nur ungern verlieren und nie an der Garderobe abgeben. Jeden, der sie daran erinnert, dass ihre Wohnung schöner, ihr Leben glücklicher und die Welt ein freier Ort sein könnte, halten sie für einen Gentrifizierungsagenten. Die Glasscherben vor ihrer Tür oder das Erbrochene in ihrem Hausflur zu entfernen, gilt ihnen als autoritäre Einmischung.

Jungle World

Es gibt wenige Texte vom Jungle-World- und Bahamas-Autor Magnus Klaue, denen man nicht vehement widersprechen könnte. Berlin als eine Ansammlung von »gegeneinander abgeschotteten Milieus« zu beschreiben, ist wohl eine zutreffende Beobachtung. Darüber hinaus legt Klaue Zeugnis darüber ab, wie ihn der Kontakt mit Berlinern zum Misanthropen gemacht hat. Was man ihm angesichts solcher Texte sofort abnimmt. Er spricht von »bürgerähnlichen« Wesen, die sich »in Horden nach dem Prinzip der Landnahme organisieren«. Von den Kommandoerklärungen mancher Autonomen, die Hass auf »Yuppies«, »Schwaben« und/oder »Gays« pflegen, die vermeintlich in »ihren« Kiez einfallen, ist diese Landraub-Metaphorik nicht weit entfernt. Spitzen gegen die Gentrifizierungsgegner dürfen natürlich nicht fehlen. Doch fallen diese Behauptungen bei näherem Hinsehen in sich zusammen. Im Einzelnen:

Jeden, der sie daran erinnert, dass ihre Wohnung schöner, ihr Leben glücklicher und die Welt ein freier Ort sein könnte, halten sie für einen Gentrifizierungsagenten.

»Prüf doch mal den Wahrheitsgehalt von dem Satz«, ist man Klaue geneigt entgegenzuhalten. Mal angenommen, es ist den Bewohnern der heruntergekommenen Kieze bewusst, dass ihre Wohnungen schäbig und ihre Leben beschädigt sind. Wer soll das in realiter sein, der den Menschen eine bessere Welt verspricht? Es ist das Herrschaftspersonal, das, wie die Bahamas es nennen würde, das kapitalistische Glücksversprechen perpetuiert, dass alle frei und gleich seien und ihr Schicksal selbst in der Hand hätten.

Wer soll das sein, der Kreuzbergern und Neuköllnern schönere Wohnungen verspricht? Es sind in der Tat die Agenten des Kapitals, die etwa, wie Cord Riechelmann kontrastiert (a.a.O.), exklusive »KfW-Effizienzhäuser« bauen und bewerben. Da die Möglichkeit des »Aufstiegs« und damit der Zugang zu den gesellschaftlichen Reichtümern verwehrt ist, bedeutet diese »Aufwertung« einzig und allein den fortgesetzten Ausschluss. Sie erinnert nicht an die Möglichkeit des guten Lebens, sondern daran, wie ärmlich und aussichtslos die eigene Situation ist. Es liegt, so müsste man die Misanthropie zum Materialismus wenden, in der Sache, dass diese Menschen verrückt spielen.

Im Übrigen, was hätten die Kreuzberger in anderen Bezirken zu suchen? Dort würden sie auf andere Milieus treffen, die sich erfolgreich gegen sie abgeschottet haben: Menschen, die sie schief ansähen, Wohnungen und Häuser, in denen sie nie wohnen könnten, Geschäfte, in denen sie nicht kaufen können, Restaurants, in denen sie nie speisen werden, Autos, die sie nie fahren werden.

Und wer soll das sein, der vermeintlich anmahnt, dass die Welt ein freier Ort sein könnte? Die zynische Behauptung lautet vielmehr, dass sie schon ein freier Ort sei.

24.08.2011