Das Gemüt einer herzlosen Welt
Ein christliches Gebet, das den verschleiernden Charakter der Religion hervorragend illustriert. Marx’ berühmte Passagen in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie könnten wie auf diesen Text zugeschnitten sein: »Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend«.Den Hass, der Rasse von Rasse trennt
Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater vergib!
Das Streben der Menschen und Völker
zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist: Vater vergib!
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen
ausnutzt und die Erde verwüstet: Vater vergib!
Unseren Neid auf das Wohlergehen
und Glück der Anderen: Vater vergib!
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der
Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge: Vater vergib!
Die Entwürdigung von Frauen, Männern,
und Kindern durch sexuellen Missbrauch: Vater vergib!
Nicht dass die Menschen sich in Nationen, »Rassen« und Klassen trennen, sei ein Übel, sondern nur, dass sich die Menschen nach diesen Trennungen hassen. Dass das eine aus dem anderen entsteht, wird nicht in Betracht gezogen. Statt einer Forderung nach wirklichem Glück (Marx) interessiert den Gläubigen bloß, dass der strafende Gott den Menschen diese Gewalt verzeiht. Dass sich die Menschen gegenseitig unterjochen, dass Nationen diesen Kampf im Weltmaßstab organisieren, kann nur als eine Verletzung des »Eigentumsrechts« gesehen wird. Das Rechtssubjekt, Besitzer des Eigentums, ist gar ein ganzes Volk.
Ferner ist dem Gläubigen nicht entgangen, wie kapitalistische Reichtumsproduktion funktioniert. Man könnte die Rede von der Ausbeutung der Arbeit materialistisch als entfremdete Arbeit lesen, als Verfügungsgewalt über fremde Arbeitskraft und Aneignung des Arbeitsproduktes. Doch es ist nicht die erste, neutrale Bedeutung des Wortes Ausnutzen gemeint. Der Handelnde ist nicht jeder gewöhnliche Kapitalist, die Arbeit nicht die eines jeden beliebigen Arbeiters. Anstatt ökonomische Bewegungsgesetze als (bloß) gesellschaftliche Naturgesetze herauszuarbeiten, sei stattdessen ein moralischer Verfall verantwortlich. Hier zeigt sich, wie die selbst geschaffenen Verhältnisse dem Menschen unverstanden bleiben und als etwas fremdes, überhistorisches gegenübertreten.
Auch die »Verwüstung der Erde« charakterisiert die derzeitige Produktionsweise treffend, ohne näher die materielle Ursache zu suchen. Nur die Unmoral könne verantwortlich sein. Ebenso muss der Wunsch nach Gleichheit, nach einem sorgenfreien Leben ohne ständige Entbehrungen, moralisch verurteilt werden. Die Menschen sind irre an den Zuständen geworden, die »Wohlergehen und Glück« unumgänglich nur bei Wenigen, zumeist den »Anderen« zulassen. Es kann schließlich nicht im Sinne des »sozialen Friedens« sein, dass die Armen dem Reichen nach seinem Reichtum trachten.
Wären das noch nicht genug der Illusionen, so entstand dieses Bittgebet nach der Bombardierung der englischen Stadt Coventry durch die Nazis. Im englischen Original: Coventry Litany of Reconciliation. Der Name Coventry steht symbolisch für den deutschen Bombenkrieg auf das Vereinigte Königreich. Nach der Zerstörung ihrer Stadt flehen die Opfer ihren Gott um Vergebung – für die Täter. Alle Menschen seien schließlich »Sünder« und müssten um Gottes Gnade bitten. Von einer realistischen Betrachtung der Situation, in der der Nationalsozialismus Europa mit Krieg und Terror überzieht, fehlt hier jede Spur. Den realen Widersprüchen, dem NS-Angriff stellt das Gebet die »Versöhnung« zwischen den »Völkern« entgegen. Wenn der Nationalsozialismus bloß aus verbreiteten Lastern der Einzelnen bestünde, wäre das freilich das richtige Rezept.
31.12.2010