Hunger auf mehr

Ein Artikel auf no-racism.net versucht einen Zusammenhang zwischen Esstörungen und veganer Ernährung herauszuarbeiten, um zu dem Schluss zu kommen, dass beides – wenn man die ganzen Relativierungen weglässt – aus »feministischer Sicht« gleich schlimm ist. Warum? Weil beide das Essen reglementieren. Alles was über ein »simples ›ich habe Hunger – ich esse‹«, was über »hemmungslosen Genuss« hinausgeht, sei dieser Argumentation zufolge antifeministisch. Denn Feminismus solle die Frauen hungriger machen – im wörtlichen und übertragenden Sinne. Eine Auswahl der Ernährung, die nicht »ausschließlich bestimmt von Lust und Kalorienaufnahme« ist, ist für die AutorInnen »antiemanzipatorisch«.

Was nun genau an einer Reglementierung des Essens überhaupt und an dieser speziellen Auswahl schlimm ist, wird im Text nicht thematisiert, sondern vorausgesetzt. (Vermutlich lautet die Prämisse: Wo Regeln existieren, werden die Frauen gezwungen und eingeschränkt. Zwang und Einschränkung werden als schlecht angenommen. Moralische Setzung, Punkt.) Dass so ziemlich niemand »hemmungslos genießt«, weil das schnell ins andere Extrem umschlagen, gesundheitliche Probleme nach sich ziehen und die Lebensqualität einschränken würde, dass das vermeintliche Idealmodell »ich habe Hunger – ich esse« die Bedeutung des Essens überhaupt nicht zu fassen vermag, – das ignorieren die AutorInnen schlicht.

Argumentativ ist der Text äußerst mager. Die AutorInnen wollen keine Gleichheit oder Kausalität zwischen Esstörung und Veganismus behaupten, sehen jedoch eine »[ähnliche] Dynamik, in der die Art wie essgestörte Frauen mit Nahrung umgehen«. Diese »Parallelen« werden nicht etwa durch Analyse herausgearbeitet. Bloßes suggestives Nebeneinanderstellen erweckt den Anschein der Ähnlichkeit. Das Kunststück geht so: Je weiter man sich vom Gegenstand entfernt, desto ähnlicher scheint er anderen Gegenständen zu sein und man kommt zu dem Glauben, alle Formen sähen gleich aus. »Das ist ja bei Veganerinnen genauso«. Ist es zwar nicht, aber da die AutorInnen vom Inhalt bewusst absehen und bloß die Form betrachten, können sie trotzdem ihren Punkt machen.

»Wie in den kleinen Ratespielen die im Text verstreut sind [...] gleichen sich oft Situationen mit Frauen die vegan sind und mit Frauen für die Essen ein Problem darstellt«. Diese Situationen sind so konstruiert, damit die Suggestion klappt. Bloß in der omnivoren Sichtweise, derzufolge Veganerinnen in der »nichtveganen« Realität ständig »Nein« sagen, hat es den Anschein, als ob alle Veganerinnen sich ständig dazu zwingen, wenig zu essen. Weil die Veganerin am – als gegeben angenommenen – Omnivoren-Buffet nicht hemmungslos reinhauen kann, sondern zum Äpfelchen-Mümmeln verdammt ist, unterliege sie ähnlichen Zwängen wie Magersüchtige dem Sexismus und Lookismus. Weil sie die lieb gemeinte, aber unangebrachte Kuhmilchschokolade von Mami ablehnt, sei sie einem ähnlich einschränkenden Hungerwahn verfallen.

Das ist schlicht nichts anderes als eine elaborierte Variante des dummen Vorurteils »What the hell does a vegan eat anyway?«, dem die AutorInnen aus dem Weg gehen wollten, es aber nicht geschafft haben. Dass dieselbe Veganerin an einem anderen Buffet sich mehr als gütlich tun würde und, wie es die AutorInnen fordern, »hemmungslos genießen« würde, bringt die AutorInnen nicht von ihrer Gleichsetzung der Situationen ab. Ebensowenig wie die Möglichkeit der selbstbewussten rationalen Entscheidung, die noch lieber gemeinte Reismilchschokolade abzulehnen, weil einfach keine Hose mehr passt oder sich Diabetes Typ 2 ankündigt.

Siebenundzwanzig Mal betont der Text, dass irgendwelche Fragen gestellt werden müssten. Dass etwas einen bestimmten Anschein erwecke. Dass etwas »möglicherweise« und »häufig« verkomme. (So etwa: »Möglicherweise führt der Verzicht auf tierische Produkte zu weniger Tierleid.« Sozusagen: Prinzipiell ausschließen kann man die Möglichkeit nicht, aber darauf festlegen will man sich auch nicht. – Guter Witz!) Er kommt daher zu keiner klaren Erkenntnis, sondern bloß zu Vermutungen und Behauptungen. Jede Aussage wird gleich relativiert.

Ich will nicht bezweifeln, dass »für manche [Frauen] ... vegan zu essen allerdings auch eine Art Kanalisierung ihrer Essstörung« darstellen kann. Es mag sein, dass mit zunehmendem Lookismus, mit zunehmenden Essstörungen auch »als Veganismus ausgelebte Esstörungen« vermehrt auftreten. Wie die Gefahr einzuschätzen ist, dass essgestörte Frauen aus Gründen ihrer Esstörung zum Veganismus wechseln bzw. dass sich vegane Ernährung in den Formen einer Essstörung entwickelt – darüber wollen und können selbst die AutorInnen keine klare Aussage machen. Nur: Prinzipiell ausschließen könne man die Möglichkeit nicht.

Dabei wären diese Fragen ernsthaft, d.h. wissenschaftlich, empirisch zu untersuchen. Es ist gut, dass der Text diese Fragen stellt, es ist gleichermaßen schade, dass er zu keiner brauchbaren Antwort kommt. Trotzdem fällt er vernichtende Urteile wie »vegan essen [lässt] sich häufig nicht mit feministischen Grundsätzen vereinbaren« und »vegane Ernährung und feministischen Forderungen stehen offenbar häufig in einem Widerspruch zueinander«. Ob diese Thesen stimmen und welche Schlüsse daraus zu ziehen wären insbesondere für Veganerinnen, Feministinnen und vegane Feministinnen, behält uns der Text vor.

Liebe AutorInnen, VeganerInnen stellen sich nicht die Frage »was darf ich heute essen?«. Das sind bloß Projektionen von Leuten, die keinen Schimmer vom Alltag von VeganerInnen haben. Ihre »ganze Aufmerksamkeit [kreist] nur mehr ums Essen« höchstens in dem Sinne, dass sie ständig auf Suche nach der nächsten Köstlichkeit sind. Das wäre eurer Meinung nach das Ideal, kann aber genauso eine Esstörung bedeuten. In den meisten Fällen taugt die vegane Ernährung nicht einmal dazu, Kontrolle über die Ernährung zu bekommen – ob dies nun eine vernünftige Kontrolle ist oder nicht. Insofern ist auch zu bezweifeln, dass »vegane Ernährung [...] helfen kann die Essstörung in den Griff zu bekommen«.

Soviel dogmatische Setzungen, Scheinargumente und Urteilssprüche ohne Beweisaufnahme machen mich ganz hungrig.

11.06.2009